Landwirtschaft darf kein Sargnagel für Artenvielfalt sein
Das Artensterben bedroht Tiere, Pflanzen und die gesamte Menschheit. Nur eine grundlegende Reform der Landwirtschaft kann das ändern. Mehr →
Neckartal und Wurmlinger Kapelle - Foto: Karin Kilchling-Hink
02. Oktober 2020 – Das Rebhuhn und die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) standen heute im Mittelpunkt eines agrarpolitischen Spaziergangs bei Rottenburg. Landesjagdverband (LJV) und NABU Baden-Württemberg hatten den EU-Abgeordneten Andreas Glück eingeladen, sich im Gebiet des PLENUM-Projekts „Rebhuhnschutz im Landkreis Tübingen“ über wirkungsvolle Naturschutzmaßnahmen und die notwendige Novelle der EU-Agrarpolitik auszutauschen. Im Raum standen die Fragen: Wie wirken sich die Entscheidungen aus Straßburg und Brüssel auf die Art der Bewirtschaftung von Äckern und Wiesen im Südwesten aus? Wie verändern sie den Lebensraum vom Aussterben bedrohter Vögel der Feldflur, wie Kiebitz, Grauammer und Rebhuhn?
EU-Förderung klima- und artenschutzwirksam ausrichten
„Weil sich die Agrarpolitik auf viele Lebensbereiche auswirkt, ist auch die gesamte Gesellschaft gefordert, um eine naturverträglichere Landwirtschaft zu unterstützen. Wir freuen uns, heute hier mit Andreas Glück über die notwendigen Schritte zu mehr Artenschutz in der Landwirtschaft diskutieren zu können“, betonte Johannes Enssle, Landesvorsitzender des NABU Baden-Württemberg. Schließlich bezahlten die Bürgerinnen und Bürger über ihre Steuern die Zuschüsse an die Betriebe. „Kein anderer Politikbereich der EU gibt so viele Steuergelder aus – derzeit 58 Milliarden Euro pro Jahr, das sind 40 Prozent des EU-Haushaltes. Angesichts von Klima- und Artenkrise können wir alle erwarten, dass die EU diese Gelder zukunftsgerecht investiert – in eine Landwirtschaft, die mehr Klima- und Artenschutz beinhaltet und Böden und Wasser schützt.“
Auch der LJV-Naturschutzleiter René Greiner freute sich über den Besuch des Politikers, der seinen Wahlkreis im nahen Münsingen hat. „Die EU-Agrarpolitik hat entscheidenden Einfluss auf unser Landschaftsbild und die Artenvielfalt, auf die Grundwasserqualität und die Klimagasemissionen. Ob zwischen Heidelberg und Konstanz weiterhin Feldlerchen singen, Wildbienen summen und Feldhasen hoppeln, darüber entscheidet die EU über die Ausgestaltung der neuen GAP maßgeblich mit“, sagte Greiner.
Im Landkreis Tübingen läuft aktuell ein vielversprechender Rettungsversuch für das Rebhuhn. Für den Schutz des Bodenbrüters wurden rund 50 Hektar mehrjährige Blühbrachen angelegt und gut drei Kilometer Hecken so gepflegt, dass die Tiere Deckung finden. In der Folge hat sich der Rebhuhnbestand leicht erholt – der Feldvogel ist aber noch nicht über den Berg.
Andreas Glück zeigte sich beim Rundgang beeindruckt von dem Rebhuhn-Schutzprojekt und dem gemeinsamen Engagement von Naturschützerinnen und Naturschützern, aus Landwirtschaft, Jägerschaft und des PLENUM-Projektteams. „In der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sehe ich große Chancen, Bürokratie abzubauen, um dann mehr Mittel dort einsetzen zu können, wo sie angebracht sind. Die neue GAP muss flexibler werden, sodass eine Produktion hochwertiger Nahrungsmittel und der Erhalt unseres Lebensraums in Einklang gebracht werden“. Glück vertritt die FDP-Delegation als Mitglied im EU-Umweltausschuss.
Arten der Agrarlandschaft sind stark gefährdet
Weil die aktuelle GAP Ende 2020 turnusmäßig ausläuft, wird derzeit auf EU-Ebene über den neuen Kurs heftig gestritten. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass die GAP bisher das Artensterben verschärft hat: Die Bestände von Tier- und Pflanzenarten der Agrarlandschaften sind seit Jahren im Sinkflug. Mit den Ackerwildkräutern verschwinden die Insekten. Von den Agrarvögeln, die es in Deutschland vor 35 Jahren noch gab, fehlt inzwischen jeder dritte. Fatal ist die Lage bei Kiebitz (-93%), Rebhuhn (-91%) und Turteltaube (-89%). Der Feldhamster, einst wegen seines Appetits auf Körner gefürchtet, ist in Baden-Württemberg nahezu ausgestorben.
Das Problem der Direktzahlungen liegt für NABU-Landwirtschaftsexperte Sebastian Strumann auf der Hand: „Die EU schüttet den größten Teil der Gelder im Gießkannenverfahren aus. Je größer die bewirtschaftete Fläche, desto höher der Zuschuss. Das ist ökologisch fatal, sozial ungerecht und ökonomisch unsinnig. Es benachteiligt kleinere Betriebe, die immer häufiger das Hoftor für immer schließen müssen. Was wir brauchen, ist wieder mehr Platz für die Natur, also Wildpflanzen und -tiere in der Agrarlandschaft – mindestens 10 Prozent auf jedem Betrieb.“ Für mehr Natur müsse die EU das fördern, was nicht nur für wenige Großbetriebe, sondern für alle einen Nutzen bringt. An Andreas Glück richteten die Verbändevertreter daher die Bitte, jetzt im EU-Parlament für eine nachhaltigere Agrarpolitik zu stimmen.
Hintergrund:
Das Rebhuhnschutzprojekt im Landkreis Tübingen, das im Jahr 2017 startete, wird in Kooperation mit VIELFALT e. V., der Initiative Artenvielfalt Neckartal (IAN) und dem Landratsamt Tübingen bis Ende 2022 fortgeführt. Es wird weiterhin über das Förderprogramm PLENUM unterstützt. In enger Zusammenarbeit mit lokalen Vertreterinnen und Vertretern aus Landwirtschaft, Jägerschaft, Naturschutz und Verwaltung erarbeitet das Projektteam wirksame Maßnahmen zum Rebhuhnschutz, wirbt für diese und setzt sie gemeinsam um. Dazu gehören mehrjährige Blühbrachen, extensiv genutzte Getreideäcker, Stoppeläcker sowie rebhuhngerechte Heckenpflege.
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