Mit einer NABU-Geschenkpatenschaft für Wildbienen oder Greifvögel und Eulen schenken Sie Ihren Lieben ein ganz besonderes Stück Natur.
Mehr ...Arten- und Naturschutz in der Klimakrise
Was nun: Anpassung oder Revolution?
Mit seinem Vortrag bei den Naturschutztagen 2024 hat der Ökologe Prof. Dr. Pierre L. Ibisch bei vielen seiner Zuhörenden einen Nerv getroffen. Die Klimakrise mit Extremereignissen führt uns immer öfter vor Augen, wie fragil unsere Ökosysteme sind. Was bedeutet das für den Natur- und Artenschutz als Ganzes? Braucht es auch dort einen Systemwandel, um die Artenkrise zu stoppen? Die Antworten, die der Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde gibt, werden sicher viele nachdenklich stimmen und zu weiteren Diskussionen anregen.
Klimakrise, Biodiversitätsverlust, Waldbrände, Hitze, Starkregen – unsere überhitzte Welt scheint aus den Fugen.
Es passt einfach nichts mehr zusammen. Noch nie haben wir Menschen so detailliert ausgemessen und analysiert, wie unser Überleben und ein gutes Leben von der Funktionstüchtigkeit der Biosphäre abhängen. Noch nie lagen so viele Beweise dafür vor, wie wir im Bestreben nach Entwicklung und Fortschritt unsere Lebensgrundlagen ruinieren. Gleichzeitig verfehlt der Naturschutz krachend seine Ziele. Auf globaler Ebene sei die Biodiversitätskonvention mit ihrem 2010-Ziel und den Aichi-Zielen bis 2020 genannt. Allesamt fast schon wieder vergessen, nicht erreicht, nicht in Ansätzen. Punkt. Stattdessen werden wieder neue Ziele für die ferne Zukunft vorgelegt. In einigen Jahrzehnten sollen phantastische Ergebnisse erzielt werden … etwa bis 2050 „Harmonie mit der Natur“, so die Vereinten Nationen. Im Ernst?
Gleichzeitig müssen wir den Ökosystemen und Arten in Europa und gerade auch in Deutschland einen sehr schlechten Zustand bescheinigen, Tendenz bedrohlich. Und in dieser Situation reagieren weite Teil der Politik keineswegs mit Vorstößen, der Natur endlich mehr Schonung zu gewähren und etwa die Nutzung und den Ausbau von Infrastruktur zu beschränken. Nein, vielmehr werden genau jetzt, auf einem vorläufigen Höhepunkt der ökologischen Krise, Arten- und Naturschutz als bürokratisches Hemmnis identifiziert, das einer Planungsbeschleunigung im Wege steht.
Die Erfindung des Naturschutzes im 19. und 20. Jahrhundert war revolutionär. Er entstand aus Empörung und Widerstand. Was brachte die Leopold Martins, Ernst Rudorffs, Wilhelm Wetekamps, Lina Hähnles und andere dazu, in einem nichtdemokratischen System ihre Komfortzonen zu verlassen und etwas Neues zu fordern und zu schaffen: den Naturschutz zu erfinden und umzusetzen? Wie groß war wohl ihre Sorge um die Zukunft? Wie hätten sie den heutigen Zustand der Natur beurteilt? Was würden sie heute fordern und tun? Nun, heute sind wir dran. Es reicht nicht, stolz auf Gründerväter und -mütter des Naturschutzes zurückzublicken. Machen wir genug?
Interview mit Prof. Dr. Pierre L. Ibisch
1. Naturschutz und funktionierende Ökosysteme sind Teil der Lösung. Doch zurzeit gibt es Tendenzen in der Politik, den Naturschutz als Fortschrittsverhinderer zu diskreditieren. Was ist dem entgegenzusetzen?
Wir Ökolog*innen und Naturschützer*innen haben das wohl wichtigste Ziel des 20. Jahrhunderts verfehlt: Mit unserem Wissen um die biologischen und ökologischen Systeme in den Gesellschaften der Erde das Bewusstsein für die Unverzichtbarkeit der Natur zu schaffen, die unbedingte Bereitschaft, diese lebenserhaltenden Systeme zu erhalten. Nun ist der Biosphärennotfall da; und es braucht eine neue Taktik.
Ich habe die Sorge, dass wir in „aktionistisches Schlafwandeln“ verfallen sind. Das bedeutet, dass wir die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Wir machen einfach weiter so wie bisher, wir versuchen konziliant zu sein, gehen auf alle Kurzzeitbedenken von Ökonomen und Landnutzer*innen ein; wir vermeiden Wut und Empörung, betreiben Naturschutz als Tagesgeschäft, sind emsig beschäftigt und ziehen es vor, uns einlullen zu lassen. Diejenigen, die das 2010-Biodiversitätsziel und die Aichi-Ziele haben scheitern sehen und nun bis 2050 die Vision Harmony with Nature anstreben, sind mindestens Schlafwandler*innen.
Lassen wir uns nicht alle täglich in Kleinst-, Ersatz- und Scheingefechte verwickeln, während um uns herum die Welt in einer Multikrise versinkt? Ich sehe viel Anpassung und Verharmlosung. Auch bei den Umweltverbänden gibt es die Schere im Kopf – man will ja nicht durch überzogene Forderungen auffallen oder als unrealistisch in die Ecke geschickt werden. Neulich las ich im Entwurf eines Strategieentwurfs eines Verbandes, dass Klimawandel und Klimaschutz eine Chance für die Renaturierung von Gewässern bedeuten könne. Meine Güte, nein, diese von uns entfesselte Klimakrise, in ihrer Macht und Geschwindigkeit, mit der sie über uns herfällt, bedeutet keine Chance für uns Menschen - und für überhaupt nichts, was uns lieb und teuer ist.
Mich stört zunehmend, dass der Weltrisiko-Report des World Economic Forum, also der Megaveranstaltung der globalen Wirtschaft in Davos, eine deutlichere Sprache spricht als die Naturschützer*innen. Immer schön die Chancen im Schlechten sehen, lieber nicht alarmistisch reden? Und bloß keine Gegnerschaft zu den Akteur*innen, die die Natur zerstören; lieber mit allen reden und sie mitnehmen?! Das ist theoretisch eine gute Idee, aber nur, wenn sie überhaupt mitkommen wollen. Was, wenn nicht?
Lobbyist*innen, die Fakten leugnen, sollten wir mit mehr Vehemenz stellen. Und ich wünsche mir, dass wir noch lauter und deutlicher sagen, was ist. Wenn wir realistisch sind und unsere wissenschaftlichen Befunde ernst nehmen, kann es in diesem Jahrhundert mit der laufenden Klimakatastrophe, dem galoppierenden Biodiversitätsverlust und den weiter anwachsenden menschlichen Bedürfnissen keine Harmonie mit der Natur geben, und wir sollten das auch ehrlich aussprechen. Es wird schlimmer kommen.
Ich weiß, ich weiß … das soll man nicht sagen, weil es uns erschrecken und lähmen könnte. Aber was ist, wenn wir unsere Bewegungsfähigkeit längst verloren haben, weil wir uns schonen und einlullen lassen? Vielleicht wäre ein bisschen Schrecken doch ganz nützlich, damit wir mal einen Sprung machen?
Haben wir wirklich begriffen, welche historische Anomalität wir gerade erleben? Und wie wir feststecken im business as usual? Genügt jetzt noch etwas mehr vom Gleichen? Noch eine Strategie, ein neues verwässertes Restoration law hier, ein halbherziges Waldgesetz dort? Oder benötigen wir neue Begriffe, neue Ziele, neue Formen, neue Motivation?
2. Sie sprechen von einer neuen Ökologie, die wir brauchen, einer „Überlebens-Ökologie“. Was bedeutet das konkret?
Ich folge hier Charlie Gardner und James Bullock, die in einem in 2021 erschienenen Artikel „In the Climate Emergency, Conservation Must Become Survival Ecology“ schrieben: „Die Erde steht vor einer Klimakatastrophe, die die Ziele des Naturschutzes weitgehend überflüssig macht.“ Anstatt zu versuchen, eine Welt zu erhalten, die es nicht mehr geben wird, ginge es nun darum, im Rahmen einer „Überlebensökologie“ den unvermeidlichen Wandel anzuerkennen. Die nach vorn gerichtete Mission sei jetzt, die Welt zu beeinflussen, die sein wird: Überlebensökologie schaut in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Ohne den Autoren notwendigerweise in allen Aussagen ihres Artikels zu folgen, finde ich, dass der Begriff der Überlebensökologie die nötige Dringlichkeit mit einer guten Beschreibung der Aufgabe vereint.
Die Welt wird im Anthropozän nicht untergehen, die biologische Evolution wird langfristig nochmal Schwung holen, aber auf dem Spiel stehen sehr kurzfristig alle Errungenschaften der menschlichen Entwicklung … und für viele Menschen geht es schon heute um das nackte Überleben in Teilen dieses Erdökosystems, das uns alle zukünftig immer weniger (er)tragen wird.
Im Naturschutz ging es schon immer ziemlich viel um uns selbst und um das, was wir brauchten, schön und erhaltenswert fanden. Nun ist es an der Zeit und legitim, ihn als Menschenschutz zu bezeichnen. Schon heute ist diese Welt sehr ungerecht, wir hängen in einem Entwicklungsmodell fest, das mit den Gesetzen der Physik und den Regeln der Ökologie nicht vereinbar ist. Lange fanden wir es in Ordnung, dass die Kosten für unseren Fußabdruck von Menschen getragen werden, die nach uns oder zumindest irgendwo anders leben. Solch ein Ansatz ist unethisch, geradezu verderbt. Aber inzwischen werden sogar die Menschen in den reichen Ländern vom Erdsystem zur Kasse gebeten, zum Beispiel im Ahrtal oder in den Waldregionen Kanadas. Sollte das nicht ein Argument dafür sein, die Natur zu schützen, die uns nährt und schützt? Wir reden inzwischen in der Umweltpolitik von „naturbasierten Lösungen“. Für manch Ungebildeten klingt das wohl immer noch nach Romantik und Homöopathie. Erklären wir ihnen ihren Irrtum!
3. Menschen brauchen stets Visionen von einer besseren Welt – wie sieht eine solche Erzählung für Sie aus?
Ja, unsere Kinder und Enkel haben diese bessere Welt verdient. Sie ist gerechter, weil die Menschen ihre Entwicklungschancen miteinander teilen und weil sie als Fortschritt definieren, dass das globale Ökosystem wieder funktionstüchtiger gemacht wird. Es ist eine Welt, in der Menschen nicht Angst vor überall ausbrechenden Waldbränden, extremer Hitze und Wassermangel haben müssen. Es ist auch eine Welt, die wir mit den anderen Lebewesen teilen, die wie wir Teil dieses komplexen Systems sind. Und in der wir uns über dieses Leben freuen können - über die Vögel und Frösche, über die Orchideen und Libellen, die Bäume an Land und die Algen im Meer - ohne dass die Sorge mitschwingt, sie könnten bald verloren sein. Es ist diese bessere Welt, in der Menschen erkennen, dass eine Ultradigital-Animation keinen echten Wald ersetzen kann und dass keine noch so mächtige hyperartifizielle Intelligenz die Kraft der Natur reparieren kann (es sei denn sie schaltet uns Menschen aus …). Es ist diese analoge Welt, die duftet und stinkt, die uns überrascht und inspiriert, fordert und trägt - die wünsche ich mir für die Zukunft. Lohnt es sich nicht, für diese Welt zu kämpfen?
4. Der NABU lebt davon, dass sich Menschen gemeinsam für die Natur einsetzen. Für viele Aktive ist der Schutz einzelner Arten ein Lebenselixier. Es macht einfach Freude, wenn ein Wiedehopf in einen extra für ihn gezimmerten Nistkasten einzieht oder wenn auf einem extensiv gepflegten Trockenrasen eine Orchidee blüht. Ist es falsch, einzelne Arten gezielt zu schützen und dafür Zeit und Ressourcen zu investieren?
Alles, was Menschen für die Natur tun – ob Arten oder Ökosysteme - alles, was sie stärker mit der Natur verbindet, ihre Ehrfurcht für das Leben wachsen lässt, das ist richtig. Ich selbst habe in den Tropen neue Arten entdeckt und sie beschrieben, ich habe mich an völlig unscheinbaren Pflänzlein erfreut und bin mit Keschern und Tümpeln als Kind zum Freund des Lebewesens geworden. Ich habe auch um in Stauseen untergegangene oder abgebrannte Wälder sowie verschwundene Arten getrauert. Insofern bin ich davon überzeugt, dass es nicht falsch sein kann, sich gezielt an bestimmten Orten für Teile der Natur einzusetzen.
Gleichzeitig müssen wir aber auch erkennen, dass es leider nicht mehr ausreicht, nur diese Einzelteile zu schützen. Das Wichtigste sind die Funktionen einer dynamisch sich selbst organisierenden und wandlungsfähigen Natur. Wenn wir im Naturschutz gegen ökosystemare Prozesse arbeiten, sollte uns das schon stutzig machen. Wir Menschen tappen oft in die Falle, dass wir uns klüger wähnen als die Natur selbst. Dann glauben wir zu wissen, dass ein bestimmter Zustand richtig ist, der sich in der Natur nicht von allein erhält. Manchmal unterschätzen wir auch die Bedeutung der Evolution, von Dynamik und Komplexität.
Leider bedeuten der Umweltwandel und vor allem die Klimakatastrophe, dass wir kurzfristig Naturschutz viel taktischer betreiben müssen. Es ist nicht möglich, Kammmolche dort zu erhalten, wo das Wasser wegbleibt. Auf Dauer auch dann nicht, wenn wir ihnen immer tiefere Löcher und Gräben ausheben. Es besteht die Gefahr, dass wir im Reparaturbetrieb und bei der Symptombekämpfung abgelenkt werden vom noch Wichtigeren. Es droht sogar das Risiko, dass uns der Mut sinkt, weil die Erhaltung des Liebgewonnenen nicht mehr gelingt.
5. Ein anderer Begriff, den Sie bei Ihrem Vortrag in Radolfzell genannt haben, ist Pronaturierung. Was hat es damit auf sich? Haben Sie Beispiele? Was ist der Unterschied zur Renaturierung, wie sie an Flüssen und Mooren versucht wird?
Der alte Naturschutz mit seinen Referenzen aus der Vergangenheit kann seine Ziele nicht mehr erreichen. Wir haben uns zu weit vorgewagt, der Weg zurück zur weitgehend menschenlosen Natur ist versperrt, no return. Diese Richtung kann uns als empathische Menschen auch nicht wirklich interessieren. Es gibt auch keine Renaturierung im Sinne der Wiederherstellung von verlorenen Systemen. Es geht nur vorwärts. Und zwar in eine Zukunft, die wir nicht kennen können – und die es nicht nur gut mit uns meint.
Nur eines ist völlig klar: Ohne eine funktionierende Natur wird es uns nicht mehr geben, da wir ja eine abhängige Komponente von ihr sind. Ich schlage vor, dass wir nicht mehr nur versuchen, Vorhandenes schützen und Verlorenes renaturieren, sondern fortan vor allem zu pronaturieren.
Pronaturierung bedeutet für mich, auf ökosystemare Kräfte zu setzen, etwa Sukzession und Resilienz. Es gibt möglichst wenig Einzelteilmanagement, viel metasystemisches Management. Definitiv aber kein permanentes Nachpflanzen, Stutzen, Trimmen, Lenken, Besserwissen. Pronaturierte Landschaft enthält mehr selbstorganisierte, wilde Natur, die uns auch überraschen darf und muss.
Bei der Pronaturierung geht es nicht darum, von uns erdachte Zielzustände zu erreichen, sondern Ökosystem-Funktionen und -Leistungen zu fördern, die uns in der Multikrise Zeit kaufen. So benötigen wir etwa vor allem Kühlung, Pufferung, Energie- und Wasserspeicherung und Bodenbildung. Es geht um thermodynamisch effiziente haushaltende Systeme, um die Dissipation, wie die Physiker sagen, oder zumindest um das zeitweilige Wegparken von zusätzlicher Energie im System, also von energiereicher Strahlung und immer mehr Wärme bzw. Hitze. Ökosysteme können das ganz gut, wenn sie funktionieren, Biomasse haben und vor allem Wasser.
Wasser ist das andere zentrale Problem unserer Zeit. Es gibt entweder viel zu wenig davon oder viel mehr, als uns lieb ist. Oft beides hintereinander, wie wir nun auch in Deutschland lernen. Beide Extreme können landesweit und wirksam nur durch Ökosysteme gepuffert werden. Ökosysteme mit funktionalen Böden, mit viel „grünem Wasser“. Dieses „grüne Wasser" wird zusehends zur Überlebensfrage werden. Wir reden also nicht über ein zwei Retentionsräume und Deichrückverlegungen.
Die Landschaftsnutzung etwa muss vom „grünen Wasser“ her gedacht werden. Hierzu gehört auch, dass Bodenversiegelung, -schädigung und -verluste gestoppt werden. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft muss nicht nur Erträge liefern, sondern auch Humus produzieren. Wer - wie aktuell viele Forstwirte und Waldeigentümer - ganze Landschaften entblößt, Böden verdichtet und freilegt, sie Austrocknung und Erhitzung preisgibt, erhöht Hitze- und Hochwasserrisiken für Mensch und Natur. Das ist kriminell. Zur Pronaturierung gehört, dass diese Praktiken gestoppt werden müssen.
Um es ganz klar zu sagen: Natürlich entsprechen gewisse Praktiken, die auch Renaturierung genannt werden, dem, was ich mit Pronaturierung meine. Das Bestreben, Moore wiederzuvernässen, damit sie in der Zukunft als Wasser- und Klimapuffer fungieren, ist natürlich mehr als sinnvoll. Gleiches gilt für die Strategien, den Wäldern erlauben, ihren Biomasse-Pool wieder aufzufüllen und ihre potenzielle Strukturvielfalt im Rahmen der Möglichkeiten wiederaufzubauen. „Proforestation“ haben amerikanische Kollegen das genannt.
Pronaturierung beginnt in der Stadt mit wilden Park- und Gartenecken und Eh-Da-Flächen. Sie umfasst das Anlegen von Agroforstsystemen und bedeutet eine Rückkehr von Hecken und Hainen in die Agrarwüste, nur größer und wilder. Pronaturierung kann mit Tiny forests oder der Aussaat von einigen Arten starten, lässt aber dann los und nutzt die Resilienz und Entwicklungskraft der Ökosysteme.
Kai Niebert, Präsident des DNR sagte vor Weihnachten in einem ZEIT-Interview: „Wir sollten aufhören, von Naturschutz im Singular zu sprechen. Es geht um Naturen.“ Er schlägt vor „über Naturen-Schutz zu reden“. Ich möchte hier deutlich widersprechen. Es gibt nur eine einzige Biosphäre, die eine Natur – die wir stellenweise mehr und anderswo weniger ramponieren. Wir können es uns nicht mehr leisten, in verschiedene Kulturen und Schulen auseinanderdividieren zu lassen. Priorität hat die ökosystemare Funktionstüchtigkeit – nicht das, was schön anzusehen oder selten ist, oder die Kulturnatur, die uns an früher erinnert.
6. Wir haben zurzeit allerorts Traktor-Demos. Landwirt*innen gehen auf die Straße, weil ihnen eine fossile Subvention für den Agrardiesel weggenommen wird. Wie schaffen wir die Agrarwende, wenn selbst vergleichsweise kleine Änderungen einen riesigen Aufruhr hervorrufen?
Es ist nicht die Schuld der Naturschützer*innen, dass der alte bewahrende Arten- und Naturschutz in der Klimakatastrophe und der ökosystemaren Multikrise oftmals so gar nicht mehr funktioniert. Aber das Desaster ist ein guter Grund dafür aufzustehen, und sich gegen Politik und Entwicklungsmodelle aufzulehnen, die uns alles nehmen. Das Problem ist vielleicht nicht der Aufruhr von Akteuren, die ihre eigenen Interessen verletzt sehen. Es ist das Fehlen des Aufruhrs, der angemessen wäre, da uns die Chancen für ein gutes Leben genommen werden.
Pronaturierung ist kein bürokratisches Ärgernis, das „Deutschlandgeschwindigkeit“ verhindert, sondern unverzichtbare Bedingung für die Fortsetzung unserer Entwicklung. Sie muss nicht ihren Beitrag zur Wirtschaft nachweisen, sondern sie ist die Fundamentalwirtschaft, in der alle wirtschaftlichen Aktivitäten geerdet werden und von der sie getragen werden.
Insofern ist Pronaturierung nicht mehr nur Angelegenheit von Umweltverbänden und Naturschutzbehörden, sondern alle produktiven Sektoren müssen direkt für die Natur wirtschaften, oder aber Verantwortung für zu pronaturierende Landschaften übernehmen. Eine Wirtschaft, die die Lebensgrundlagen von Menschen ruiniert und die Funktionstüchtigkeit der lebenserhaltenen Systeme untergräbt, ist anti-ökonomisch.
Also ist Ökosystem-Funktionstüchtigkeit die Leitwährung einer pronaturierten Wirtschaft. Räume mit arbeitsfähiger Natur, die für emergente Ökosystemleistungen sorgt, wo also etwa Wasserkreislauf und Regionalklima am Laufen gehalten werden, sollen nicht mehr Schutzgebiete heißen, und diese werden auch nicht mehr stillgelegt, sondern sie sind Bioproduktivgebiete.
Klingt das nach einer Utopie? Vielleicht sogar ein bisschen irre? Dann müssen wir vehementer auch an der Pronaturierung unseres Denkens arbeiten. Unser Denken geht legitimerweise vom Menschen aus, aber es muss sich auf die Natur richten.
Was nicht gut ist für Menschen und schädlich für das globale Ökosystem, hat keine Berechtigung. Ich nenne diese Form einer Ökosystemethik „Ökohumanismus“. Es mögen auch andere Werte zur gleichen Schlussfolgerung führen. Immer gilt: Denken ohne Werte ist wertlos.
Die Pronaturierung der Gesellschaft bedeutet auch eine Umkehr der Beweislast: Nicht wir Ökologen sollten Ökonomen davon überzeugen wollen, dass Ökosystemleistungen einen monetären Wert haben, sondern die Ökonomen und Wirtschaftenden müssen uns nachweisen, dass ihr Wirtschaften nicht die fundamentalen Werte beschädigt.
Wenn wir davon ausgehen, dass es gut wäre, unsere sozial-ökologischen Systeme in ihrer Gesamtheit zu pronaturieren, dann ist das Ganze auch ein sehr politisches Unterfangen. Ich fürchte allerdings, ein zentrales Problem des alten Naturschutzes ist, dass er viel zu unpolitisch ist.
Es gibt zwar eine Naturschutzpolitik, aber der Naturschutz hat sich vor allem damit begnügt, Praxis zu sein, Ehrenamt und zivilgesellschaftliches Engagement, außerdem auch ein bisschen Wissenschaft – und alle arbeiten sich an Symptomen und Reparaturen ab. Naturschutz ist kein politisches Projekt, keine Bewegung. Oder?
Wenn der Naturschutz jetzt nicht innerhalb kürzester Zeit eine neue politische Kraft entfaltet – vielleicht mit neuem Namen, definitiv mit veränderten und konsistenten Zielen – dann wird es eng.
7. Haben Sie die Hoffnung, dass die große Transformation gelingen kann?
Im Angesicht der gigantischen Bedrohungen können wir uns keine Resignation leisten, sondern müssen aus der Krise Motivation schöpfen, damit wir endlich um unser Überleben kämpfen … denn um nichts weniger als darum geht es. Das klingt alles sehr pathetisch. Aber das sollte es auch sein, im Sinne der jetzt erforderlichen ganz großen Gefühle und des kompromisslosen Einsatzes für Menschen und die Natur. Ehrlich gesagt: Hoffnung ist mir in unserer Lage als Gefühl deutlich zu schwach und zu passiv. Also hoffe ich nicht, sondern fühle die Pflicht, für diese Transformation zu werben und zu streiten.
Zum Weiterlesen:
Von Pierre Ibisch:
Der Mensch im globalen Ökosystem - ISBN: 978-3-96238-394-7
Das ökohumanistische Manifest - ISBN: 978-3-7776-2865-3
Waldwissen - ISBN: 978-3-494-01886-7
Zur Überlebensökologie:
Frontiers | In the Climate Emergency, Conservation Must Become Survival Ecology (frontiersin.org)