Fakten zum Insektensterben verdichten sich weiter
Das Insektensterben ist eine Tatsache, auch bei uns. Das ergibt eine vom NABU Baden-Württemberg aktuell fertiggestellte Auswertung . Mehr →
Wenn Honigbienen an den falschen Blüten naschen, kann das für sie tödlich sein. Seitdem die Agrarindustrie Anfang der 1990er Jahre begonnen hat, mit Neonicotinoiden (Neonics) gebeiztes Saatgut zu verkaufen, leben Honigbienen, aber auch Schmetterlinge, Hummeln und Schwebfliegen gefährlich. Wächst die Pflanze heran, breitet sich das Nervengift aus dem Saatkorn in Stängel, Blätter und Blüten aus und ist sogar in Nektar und Pollenstaub zu finden. Ähnlich wie bei Alzheimer verlieren Insekten, die damit in Kontakt kommen, ihre Erinnerung und ihre Fähigkeit zu kommunizieren. Warum die Wirkstoffe, die es auch für den Hausgebrauch in Baumärkten zu kaufen gibt, für Insekten so gefährlich sind und was daraus folgen muss, erklärt der Neurobiologe Prof. Dr. Randolf Menzel von der Freien Universität Berlin im NABU-Interview.
Herr Professor Menzel, Sie konnten in Experimenten nachweisen, wie Neonics auf Honigbienen wirken. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Wir haben getestet, wie sich der Besuch von mit Neonicotinoiden belasteten Blüten auf die Fähigkeit der Honigbienen auswirkt, ihren Stock wiederzufinden. Um die Wirksamkeit dieser Kontakt- und Fraßgifte nachzuweisen, mussten wir Honigbienen mit winzig kleinen Antennen für Radarstrahlen ausstatten. Mit einem speziellen Radargerät haben wir ihre Flugbahn verfolgt und aufgezeichnet. Zum Navigieren lernen Bienen, die Landschaftsstruktur in den Sonnenkompass einzupassen. Bienen merken sich die Flugroute zwischen Stock und Blütenfeld und orientieren sich dabei an Bäumen, Bächen und anderen Landschaftsmerkmalen.
Wie lässt sich so etwas wissenschaftlich korrekt testen?
Wir hatten in unserem Versuchsaufbau, wie es auch in tiermedizinischen Tests üblich ist, eine Kontrollgruppe mit Bienen, die problemlos von A (Stock) nach B (Futterstelle) und wieder zurück flog. Wir ließen die Bienen erst ihre eingeübte Strecke zwischen Stock und 200 oder mehr Meter entfernter Futterstelle zurücklegen und setzten sie dann zwischen 300 und 600 Meter weiter entfernt aus. Die unbelasteten Bienen flogen – ihrem Routengedächtnis folgend – in die Richtung, die sie sich gemerkt hatten. Sie suchten dann irritiert nach Landschaftspunkten und flogen auf dem kürzesten, neuen Weg zum Stock. Damit zeigen sie uns, dass sie ihr Landschaftsgedächtnis verwenden können, ein Gedächtnis, das sie für das effektive Sammeln von Nektar, Pollen und Wasser einsetzen.
Bei den Bienen, die mit Neonics belastete Futterstellen besucht hatten, fanden viele nicht zum Stock zurück, und bei denen, die es schafften, war der Heimflug signifikant länger. Sie konnten offenbar ihr Landschaftsgedächtnis nicht mehr ausreichend nutzen. Im Labor haben wir dann getestet, wie gut sich Bienen an bestimmte Düfte erinnern. Wurden sie zuvor mit den Neonicotinoiden Clothianidin oder Thiacloprid oder dem im Handel käuflichen Pflanzenschutzmittel Calypso, das Thiacloprid enthält, gefüttert, war nicht nur die Gedächtnisbildung, sondern auch der Gedächtnisabruf sehr viel schlechter.
Woher kommt diese fatale Wirkung?
Insekten haben einen Gehirnbereich, den Pilzkörper, der ihr komplexes Verhalten steuert. Hier sitzen auch die Eingänge der Sinnesorgane. Zur Übertragung sind Moleküle im Einsatz, deren Funktion Neonicotinoide stören. Bei höheren Dosen ist dies tödlich, bei sehr niedrigen Dosen beeinträchtigt dies die Gehirnprozesse. Wahrnehmen, Lernen, Erinnern, Orientieren, Navigieren, Kommunizieren – all dies funktioniert nicht mehr richtig. Daneben stören Neonics das Immunsystem der Insekten, die Entwicklung von Larven, den Energiestoffwechsel und wirken sogar auf das Erscheinungsbild der Gene. Übrigens nimmt die Pflanze aus dem gebeizten Samen nur zwei bis 20 Prozent des Insektizids auf, die übrigen 80 bis 98 Prozent belasten Böden und Gewässer – und damit die dort lebende Tierwelt. Und sie reichern sich dort über Jahre an. Wenn die Pflanzen gespritzt werden, ist die Situation ähnlich negativ.
Ein Bienenvolk besteht ja aber aus vielen tausend Einzeltieren. Wenn sich da ein paar verfliegen, ist das so dramatisch?
Eigentlich verkraftet ein Bienenvolk Verluste, es erneuert sich ja ständig. Das Perfide an den Neonicotinoiden ist, dass sie nicht nur das Gedächtnis der Bienen zerstören. Mit Pollen, Nektar und gesammeltem Tauwasser gelangen die Nervengifte direkt in den Stock und reichern sich dort in Honig, Bienenbrot (Pollen) und Wachs an. Weil die aufgenommene Dosis in der Regel nicht tödlich ist, nimmt der Anteil der Alzheimer-Bienen im Stock stetig zu. Die betroffenen Bienen können nicht mehr mit ihren Artgenossinnen kommunizieren, nehmen nicht mehr am Schwänzeltanz teil, sind demotiviert zu sammeln und verlieren ihre Funktion fürs Volk. Auch ihre Immunreaktion und die Temperaturregulation sind geschwächt. Wird die Königin mit belastetem Futter ernährt, sinkt ihre Fruchtbarkeit und sie legt weniger Eier, aus denen Arbeiterinnen schlüpfen können.
Immer mehr Imker/-innen finden leere Bienenstöcke vor, die Bienen sind einfach verschwunden. Als Verursacher werden oftmals Varroamilben genannt. Was sagen Sie als Neurologe dazu?
Der Verlust aller Bienen eines Bienenstocks hat sicherlich mehrere Ursachen, wobei deren Zusammenspiel noch nicht gänzlich erkannt ist. Die Varroamilbe ist dabei weniger beteiligt. Sehr viel wichtiger sind die Pestizide und die damit einhergehende, reduzierte Immunabwehr gegenüber Vireninfektionen.
Wie wirken Neonicotinoide auf Wildbienen, die größtenteils solitär leben?
Da viele Wildbienen, zu denen auch die Hummeln zählen, häufig kleiner sind als die Honigbiene, ist die giftige Wirkung bei gleicher Dosis von Neonicotinoiden auf sie oftmals deutlich stärker. Mit Ausnahme der Hummeln sind ja alle Wildbienen einzeln lebende Tiere. Wenn also ein Muttertier ausfällt, ist das ganze Nest zerstört. Die Studie von Rundlöff und anderen, die 2015 in der Zeitschrift „Nature“ erschien, belegt, dass sich die Wildbienendichte halbiert hat, wenn die Tiere Blüten von gebeiztem Raps anflogen. Bei Hummeln sind die Brutzellen fast verschwunden. Außerdem können Einzelbienen Verluste ja nicht ausgleichen.
Wir vermuten einen direkten Bezug zwischen dem Einsatz von Neonics, vor allem in der Landwirtschaft, aber auch im Garten, und dem großflächigen, massiven Artensterben der Insekten in ganz Europa. Betroffen sind sehr viele Insektenarten, da diese von Nektar und Pollen leben, Wasser aus Ackerpfützen aufnehmen, wo sich hohe Konzentrationen von Neonicotinoiden finden. Außerdem entwickeln sich viele Insekten als Larven in Teichen, Flüssen und Seen, in denen das kontaminierte Grundwasser aus den Äckern landet. Hinzu kommt der massive Verlust an blütenreichen Lebensräumen in weiten Teilen Europas.
Angesichts des gravierenden Einflusses auf Wildbienen und des durch zahlreiche Studien nachgewiesenen Insektensterbens – welchen Effekt haben die Gifte auf Insekten fressende Arten?
Bisher wurde immer angenommen, dass die Neonics so spezifisch auf Insekten wirken, dass andere Tierarten wie Säugetiere und Vögel nicht direkt, sondern nur indirekt über den Verlust der Nahrung darunter leiden. Zwei neue Studien widerlegen jetzt diese Annahmen und zeigen, wie dramatisch sich unsere gesamte Lebenswelt verändert.
Wissenschaftler aus Taiwan haben kürzlich nachgewiesen, dass Imidacloprid das räumliche Gedächtnis einer dort einheimischen Fledermausart stört. Die Fledermäuse, die Echolote zur Orientierung und zur Jagd nutzen, änderten ihr typisches, gelerntes Flugmuster. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass die Pestizide, die in Landwirtschaft, Gärten und Städten eingesetzt werden, eine ernste Bedrohung für das Überleben von Echoloten nutzenden Fledermäusen allgemein sind. Dabei ist besonders aufregend, dass dieses Neonic auf eine Gedächtnisstruktur, den Hippokampus wirkt, der im Säugergehirn für die Navigation zuständig ist.
Eine US-amerikanische Studie prüfte die Effekte von Chlorpyrifos und Imidacloprid auf die Dachsammer, einen Singvogel, der im Nordwesten der USA und in Teilen Kanadas zuhause ist und im Süden des Landes und in der Karibik sein Winterquartier bezieht. Die Wissenschaftler fütterten die Singvögel mit einer Dosis, die der Menge von vier Imidacloprid-behandelten Körnern und acht Chlorpyrifos-behandelten Körnern entspricht, über drei Tage. Danach prüften sie die Auswirkungen auf Gewicht, Zugverhalten und Orientierung bei niedriger und höherer Giftdosis. Dachsammern, die Körner mit Imidacloprid fraßen, verloren deutlich an Körpergewicht und Fettreserven (durchschnittlich 17/25 Prozent bei niedriger/hoher Dosis). Beide Neonics wirkten sich deutlich negativ auf Orientierungsvermögen, körperlichen Zustand und Zugverhalten der Zugvögel aus. Dies wiederum erhöht das Sterberisiko und die Gefahr des Brutverlusts.
Wenn die Neonicotinoide so giftig sind, warum steht auf Garten-Spritzmitteln wie Calypso der Firma Bayer „nicht bienengefährlich“?
Die europäischen Prüfvorgaben für die Zulassung von Pestiziden sind nicht auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Dabei wird nämlich nur die Sterberate festgestellt (LD50) und nicht die nicht-tödlichen Effekte. Die Hersteller nutzen zudem oft Studien mit fragwürdiger Methodik. Unsere Versuche mit Honigbienen haben gezeigt, dass die Gifte bereits in viel geringerer Dosis eine fatale Wirkung entfalten. Selbst bei korrekter Anwendung nach Herstellerempfehlung ist die Giftdosis so hoch, dass sie Bienen töten kann.
Dass sich ausgerechnet Deutschland als Sitz des Hauptherstellers Bayer mit einem Verbot von Neonicotinoiden schwer tut, ist nicht weiter verwunderlich. Frankreich hat ein Zeichen gesetzt und den Einsatz von Neonicotinoiden ab 2018 unter strengste Kontrolle gesetzt. Ihr Einsatz ist dann nur noch möglich, wenn ein massiver Schädlingsbefall nachgewiesen ist. Ein vorbeugender Einsatz ist dann immer verboten. Darüber hinaus haben französische Wissenschaftler ermittelt, dass der um 80 Prozent reduzierte Einsatz von Neonicotinoiden bei 80 Prozent der Betreiber zu keinen negativen ökonomischen Auswirkungen geführt hat.
In der EU dürfen aktuell drei Neonics nicht ausgebracht werden – insgesamt gibt es aber 13 bekannte Wirkstoffe. Und die Agrarkonzerne haben begonnen, ihre alten Gifte unter neuem Namen in Umlauf zu bringen. Ist das Insektensterben trotzdem noch zu stoppen?
Das Insektensterben und all die weiteren Folgen auf andere Tiere werden weitergehen, wenn wir unsere industrialisierte Landwirtschaft so weiter betreiben wie bisher. Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln muss daran geknüpft werden, dass ihre Unschädlichkeit für nicht schädliche Insekten nachgewiesen ist. Dabei wird es nicht möglich sein auf Pflanzenschutzmittel ganz zu verzichten, denn natürlich konkurrieren wir mit Bakterien, Pilzen, kleinen Würmern und Insekten um Nahrung, vor allem wenn es sich um so hochwertige Nahrung handelt, wie sie unsere Landwirte erzeugen.
Frankreich zeigt uns, welchen Weg wir einschlagen müssen. Jeder Einsatz von Pflanzenschutzmitteln muss sehr streng geprüft werden und dann aufgrund einer Ausnahmegenehmigung möglich sein. Landwirte dürfen ihre Information über die Folgen des Einsatzes nicht nur über die am Verkauf interessierte Industrie erhalten. Hier steht die Ausbildung der Landwirte in der Pflicht. Traditionelle Methoden des Pflanzenschutzes (fünfjährige Fruchtfolge wie z. B. in der Schweiz, gemischter Anbau, Grünstreifen, Brachen) müssen vorgeschrieben werden. Programme zur Pflege von Brachland bedürfen eines gut ausgearbeiteten Plans und müssen überwacht, aber auch gezielt finanziell unterstützt werden.
Wie könnte das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg, das mit einem Sonderprogramm die Biodiversität im Land sichern will, effizient gegen das Insektensterben vorgehen?
Ein ganz grundsätzliches Überdenken ist angesagt. Das betrifft uns alle, nicht etwa nur die Landwirte und die pharmazeutische Industrie. Uns müssen der Erhalt der Artenvielfalt und eine ausgeglichene Landschaftsstruktur etwas wert sein. Biologisch ausgerichtete Landwirtschaft bedarf so lange einer Unterstützung, solange konkurrierende Nahrungsmittel aus dem üblichen Landbau auf dem Markt sind. Dies muss sich aber im Laufe eines gut strukturierten Programms so wandeln, dass wir für unsere gesunde Ernährung und den Erhalt der Umwelt bereit sind, mehr zu zahlen.
Eine massive Einschränkung des Einsatzes von Pestiziden wird ein erster wichtiger Schritt sein. Zu allererst muss der vorbeugende Einsatz von Neonics, insbesondere das Ausbringen von gebeiztem Samen, grundsätzlich verboten werden. Ein Verkaufsverbot in Deutschland greift zu kurz, solange Landwirte die Mittel in anderen EU-Ländern kaufen können. Die Spritzprotokolle aller Landwirte müssen öffentlich zugänglich sein und zentral von der Landesregierung gesammelt und bewertet werden. Parallel sollten sich Gebietskörperschaften wie Regional- oder Landkreise oder Gemeinden zum Verzicht auf Neonics bekennen und deren Einsatz als letzte Notmaßnahme festlegen. Dazu passend brauchen wir finanzielle Anreize für Bauern, die sich hierzu selbst verpflichten, was allerdings einer Kontrolle bedarf. Darüber hinaus gibt es natürlich eine ganze Reihe von möglichen und dringlich gebotenen Maßnahmen, die die landschaftliche Vielfalt fördern, den Anbau von Energiepflanzen einschränken und die Pflege von Brachland fördern.
Vita:
Prof. Dr. Randolf Menzel hat an den Universitäten Frankfurt und Tübingen Biologie, Chemie und Physik studiert. Seine Dissertation schrieb er über die Farbenlehre bei Bienen. Der Zoologe war ab 1972 Professor an der TH Darmstadt und anschließend an der Universität Berlin, bevor er in Berlin das Institut für Neurobiologie aufbaute und über 30 Jahre leitete. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeiten führten ihn in viele Länder, unter anderem in die USA, nach Brasilien, Australien, Neuseeland, Israel, China, Japan und Norwegen. Menzel wirkt als Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien mit. Seit 2008 ist der Wissenschaftler emeritiert.
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